“Goldene Morgenröte” vor Gericht – Unterschätzte Gefahr, realer Mord

pappas_naziAngeklagter und Abgeordneter der Goldenen Morgenröte Christos Pappas mit Hitlergruß (Aus griechischer Zeitung “EFSYN”)

(Von Panajotis Gavrilis, deutschlandradiokultur.de, 4/2/2016)

Mit Hakenkreuz und Hitlergruß auf dem Familienfoto: So präsentieren sich Anhänger der Partei “Goldene Morgenröte”. 69 von ihnen stehen im größten Prozess Griechenlands seit Ende der Militärdiktatur vor Gericht – unter anderem wegen eines Mordes.

Eine Horde von Männern, die “Sieg Heil”, “Heil Führer” und “Heil Goldene Morgenröte” auf Griechisch brüllt, dabei ihren Arm zum Hitlergruß steckt.

Dieses Video eines Konzertes von und für Anhänger der Goldenen Morgenröte ist nur ein Beweis von vielen. Eine Partei, deren schwarz-weiß-rotes mäanderförmiges Logo ans Hakenkreuz erinnert. Eine Organisation, die ganz offen den Nationalsozialismus verehrt.

“Es gibt meines Wissens nichts Vergleichbares in so einem Ausmaß heute in Europa. Die Führung studiert und kopiert seit der Gründung die Methoden und die Theorien der NSDAP. Es gibt SA-ähnliche Straßentruppen und sie kopiert Hitlers Vorgehen zu Zeiten der Weimarer Republik.”

sagt Dimitris Psarras. Er arbeitet als Journalist bei der “EFSYN”- was übersetzt bedeutet “Zeitung der Redakteure” und er ist Zeuge im Prozess. Journalistisch beobachtet er die “Goldene Morgenröte” seit ihrer Gründung 1980, sechs Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur in Griechenland. Ein zentrales Element der “Goldenen Morgenröte” sind die SA-ähnlichen Schlägertrupps – insgesamt sollen es ein paar Hundert Leute sein, die gezielt Gewalt auf Andersdenkende und Migranten ausüben.

“Ausbildungslager mit paramilitärischem Charakter”

“Sie erledigen die ganze ‘Drecksarbeit’ in ganz Griechenland. Einige von ihnen kommen von den Spezialeinheiten des Militärs. Sie organisieren eigene Camps und präsentieren sie als Sommerzeltlager. In Wahrheit sind es natürlich Ausbildungslager mit paramilitärischem Charakter.”

Mehr als 30 Männer tragen Motorradhelme, schwarz-weiße Camouflage-Hosen, schwarze T-Shirts. Sie trommeln mit ihren Schlagstöcken auf die selbstgebauten Keltenkreuz-Schilde. Auf einem zentralen Platz rufen sie ungestört “Blut, Ehre, Goldene Morgenröte”.

Ilias Kasidiaris (vorne links mit Lederjacke) ist Abgeordneter der Goldenen Morgenröte und angeklagt im Prozess. (Aus griechischer Zeitung "EFSYN")Ilias Kasidiaris (vorne links mit Lederjacke) ist Abgeordneter der Goldenen Morgenröte und angeklagt im Prozess. (Aus griechischer Zeitung “EFSYN”)

Es war auch eine dieser Truppen, die den Rapper Pavlos Fyssas am 17. September 2013 im Arbeiterviertel “Keratsini” – in der Nähe von Athens Hafen ermordet haben soll. Sein Vater erinnert sich.

“Sie haben ihn hier gejagt. Er wollte seine Freunde beschützen und hat sie weggeschickt. Einer hält mit dem Auto quer auf der Straße, steigt aus und sticht meinem Sohn direkt ins Herz.”

“Der Arzt sagte: Es war ein gezielter Stich.”

Trotz vieler ähnlich brutaler Angriffe auf Migranten zuvor ließ die damals regierende rechtskonservative Nea Dimokratia erst nach dem Mord an Fyssas, einem weißen Griechen, Ermittlungen gegen die Goldene Morgenröte einleiten. Deren Abgeordnete und die Parteiführung wurden verhaftet. 69 Personen sind heute angeklagt im größten Prozess in Griechenland nach Ende der Militärjunta 1974. Zu den Hauptanklagepunkten gehören die Übergriffe auf ägyptische Fischer, auf Gewerkschafter, die Bildung einer kriminellen Organisation und eben der Mord am Musiker Pavlos Fyssas.

“Die einzigen, die einen Mord verhindern konnten”

Thanassis und Giannis drehen sich in ihrem neu eröffneten Tattoo-Studio “Jackals” am Hafen von Piräus eine Zigarette. Oben im aufgeräumten Laden läuft Hip-Hop, im Keller ist es ruhig, kühl. Beide sind mit Pavlos Fyssas aufgewachsen, haben gemeinsam Musik gemacht. Thanassis größer und kräftiger mit Nasenpiercing und Mütze. Giannis etwas zierlicher, Schnurbart, Baggy-Hose und Lederjacke.

“An diesem Abend wurde er zur Zielscheibe der Goldenen Morgenröte, weil er den Mut hatte sich 50 Leuten in den Weg zu stellen. Er wollte zeigen: Wir rennen nicht vor euch weg, nicht in unserer Nachbarschaft. Das wollten die nicht glauben. Sie wollten ein Zeichen setzen getreu dem Motto: ‘Wir haben hier das Sagen!’. Deshalb haben sie ihn aufgefressen.”

Giannis und Thanassis verfolgen jeden Tag des Prozesses gegen die Goldene Morgenröte, nehmen sich frei, um die Eltern und Angehörigen beim schwierigen Gang ins Gericht zu unterstützen.

“Unsere Gesellschaft brauchte ein Opfer. Und das ausführende Organ war die Goldene Morgenröte. Es ist alles noch schlimmer. Es gibt nichts Gutes an seinem Tod. Mir wäre es lieber, Pavlos wäre nicht von uns gegangen und die könnten von mir aus ruhig 70 Prozent im Parlament bekommen. Scheißegal.”

Seit Beginn des Prozesses im April 2015 geht es vor allem um den Fyssa-Fall. Die als Zeugen geladenen Polizisten, die am Abend der Ermordung anwesend waren, widersprechen sich in ihren Aussagen vor Gericht. Manche Polizisten decken die Faschisten, ist für Thanassis klar:

“Sie versuchen ihre Verantwortung runterzuspielen, damit die Menschen nicht mitkriegen, dass sie sehr wohl eine große Verantwortung tragen. Sie sind mitschuldig. Sie waren die einzigen, die einen Mord verhindern konnten. Sie konnten –sie taten es aber nicht.”

“Faschismus stirbt nicht durch eine Verurteilung”

Der Prozess findet zu einem schlechten Zeitpunkt statt, meinen die beiden Musiker. Es beschäftigen sich nur noch die direkt Betroffenen damit. Verständlich, in ihren Augen. Schließlich kämpfen viele andere aufgrund der Krise ums tägliche Überleben. Trotz des Verlusts und der schwierigen Umstände sind sie froh, dass es überhaupt zum Prozess gekommen ist. Nicht um Gerechtigkeit zu bekommen, sondern um ein Signal zu senden.

“Das Wichtigste ist: Was lernen die Menschen daraus? Was als Urteil rauskommt ist doch Jacke wie Hose. OK: Die stecken zwei, drei ins Gefängnis, noch ein paar andere werden noch verurteilt. Was ändert sich aber am Bewusstsein der Gesellschaft? Das ist wichtig. Was die Leute da draußen daraus lernen, damit machen.”

Thanassis zieht an seiner Zigarette, hält kurz inne und beantwortet seine Frage selbst.

“Es wird sich nichts ändern. Und wenn sich etwas ändert, dann vergessen es alle wieder. Von wegen: Wir haben ein Denkmal für Pavlos hin gebaut, haben Demos gemacht…”

Nur der Straßenname am Tatort hat sich in “Pavlos Fyssas” geändert, sagt der 29-jährige Giannis und fügt hinzu:

“Wir erwarten nicht, dass der Faschismus durch eine Verurteilung stirbt. Das geht nur auf der Straße, wie es früher auch passiert ist in anderen Ländern.”

Der Kellerraum ist mittlerweile voller Zigarettenqualm, auf einem Tisch liegt ein alter Sportschuh, den der Elektriker Giannis zum leuchtenden Designer-Objekt umgestaltet hat. Oben Tattoos, unten Lampen, und im Kopf immer wieder Pavlos, sagt Thanassis:

“An deinen Geburtstagen ist er zwar da, aber nicht so, wie du es willst. Er ist nicht nur jetzt präsent, wo wir über ihn sprechen, sondern 24 Stunden am Tag. Aber er ist nicht da, um ihn zu berühren. Du bist mit ihm aufgewachsen, es geht nicht anders, er ist einfach überall.”

“Der Wolf säubert sein Nest!”

Sie verarbeiten gemeinsam den Tod ihres Freundes. Mit der Familie von Pavlos, die sich in einem schlimmen Zustand befindet, wie sie sagen. Die Mutter verfolgt jeden Prozesstag und muss dem Mörder ihres Sohnes in die Augen schauen. Ein Mitglied der Goldenen Morgenröte hat den Mord gestanden. Für die beiden Jungs gibt es nur noch eine Sache, die ihnen neben all den Erinnerungen mit Pavlos bleibt:

“Das was wir möchten und ihm schuldig sind, dass die Nichten von Pavlos mit den schönen Ideen ihres Onkels aufwachsen. Die eine ist ein Jahr alt, die andere fünf. Und während sie aufwachsen erzählen wir ihnen über Pavlos. Wir wollen ihnen erzählen, wer er war, sie sollen seine Lieder hören und in einer besseren Welt aufwachsen.”

Dieses Lied widmete Pavlos einem Freund, der bei einem Autounfall starb. Er singt über unerfüllte Kinderträume und von dem einen, dem unglücklichen Moment, der alles veränderte. Wohin geht die Reise – nach dem Tod, fragt er.

“Nein! Der Wolf säubert sein Nest! Und dieses Nest bleibt rein! Mit Faschisten, mit Nazis, Kriminellen, mit Messerstechern, mit was auch immer! Aber nicht mit Verrätern! Du kannst nicht mit den Juden sein und mit der Goldenen Morgenröte! Der Rest sollte sich glücklich schätzen, sonst schlagen wir ihnen die Schädel ein!”

Das sagt Nikolaos Michaloliakos vor seinen Anhängern. Offiziell ist er der Parteivorsitzende der Goldenen Morgenröte, intern wird er aber “Führer” genannt. Er entscheidet, koordiniert alles nach dem Vorbild des “Führerprinzips” der Nationalsozialisten. Er selbst hat kein Problem damit, öffentlich den Hitlergruß zu zeigen oder den Holocaust zu leugnen. Und von Demokratie und Wahlen hält er nicht viel, wie er selbst in einem kleinen Restaurant sagte, kurz vor dem erstmaligen Einzug ins Parlament im Jahr 2012:

“Wir ziehen ins Parlament ein, um es zu zerstören! So Gott will! Das ist unser Ziel und das sage ich ganz offen!”

Die Goldene Morgenröte ist international gut vernetzt, es gibt regen Austausch mit Faschisten in Italien, Rumänien, Deutschland. Michaloliakos zum Beispiel ist mit dem deutschen NPD-Europaabgeordneten Udo Voigt befreundet. Voigt war es auch, der zu Beginn des Prozesses nach Athen reiste. Beobachtet hat das unter anderem die Radiojournalistin Eleftheria Koumandou.

Prozess im heruntergekommenen Frauengefängnis

Sie berichtet für den Athener Stadtsender 98,4 über das Geschehen im Gericht und moderiert wöchentlich im freien Radio die Sendung “The Watchers”, die sich ausschließlich um den Prozess dreht. Am meisten ist sie vom Verhalten der vorsitzenden Richterin überrascht. Anfangs fragte sie in neutralem Ton die Polizisten. Doch wegen der unterschiedlichen Angaben der Beamten, wirkt die Richterin immer genervter, sagt die Journalistin und nennt einige Sätze der Richterin.

“‘Glauben Sie, das ist die Rolle der Polizei? Sind Sie zufrieden mit dem, was sie getan haben? Wurden Sie für das ausgezeichnet, was sie sagen getan zu haben und haben sie die Auszeichnung angenommen?’ – Alles Fragen der Vorsitzenden gegenüber den Polizisten.”

Der Prozess selbst findet in einem spärlich eingerichteten Saal im heruntergekommenen Frauengefängnis von Korydallos statt, weit weg vom Athener Zentrum. Für Eleftheria Koumandou sind die Zustände unerträglich:

“Es gibt keinen getrennten Aufenthaltsraum für die Zeugen. Es gibt keinen getrennten Raum für die Anwälte der Nebenklage oder für die Angeklagten und ihre Anwälte. Wer auf Toilette will, muss an den Angeklagten vorbei, das sind mindestens 70 Leute. Ich habe keine Angst, aber ich fühle mich auch nicht wohl.”

Am Anfang waren die Angeklagten noch verhältnismäßig zurückhaltend. Doch mittlerweile häufen sich die Vorfälle, beschreibt sie:

“Als eine Zeugin die beschriebene Person unter den Angeklagten identifizieren sollte und sie sagte: ‚Ja, er ist der in der zweiten Reihe mit dem schwarzen Hemd”, stand er auf und antwortete: ‚Lass uns rausgehen und dann sehen wir, ob du dich noch an mich erinnerst!’ – Die Richterin hat nichts gesagt, es gab Tumulte und dann unterbrach sie die Sitzung.”

Seit fünfeinhalb Jahren beschäftigt sich die 40-Jährige mit der “Goldenen Morgenröte”. Mittlerweile verfolgt die Journalistin nur noch mit rund zehn Kolleginnen und Kollegen den Prozess. Die Berichterstattung hat stark abgenommen, nur wenn es emotional zugeht, steigt das Interesse. Um trotzdem alles zu dokumentieren, hat sich das Portal “goldendawnwatch” in Anlehnung an “NSU-Watch” in Deutschland gegründet. Erstmals überhaupt gibt es so eine akribische Prozessbeobachtung in Griechenland, an der auch Eleftheria Koumandou ehrenamtlich mithilft.

“Es war immer ein mieses Klima”

“In früheren, kleineren Prozessen gegen die ‘Goldene Morgenröte’, haben ihre Sympathisanten schon früh die Gerichtssäle eingenommen. Niemand anderes konnte rein, um Zeugen zu unterstützen, die gegen sie aussagen wollten. Es war immer ein mieses Klima. Wir wollten sicherstellen, dass jetzt jemand sie beobachtet. Alle.”

Eine Live Fernseh- oder Radioübertragung ist generell möglich, aber dafür müssen alle Prozess-Beteiligten zustimmen. Die Goldene Morgenröte wollte das nicht. Sie will so wenig Öffentlichkeit wie möglich, den Prozess runterspielen. Was die Journalistin Eleftheria Koumandou am meisten aber stört, dass ausgerechnet bei diesem wichtigen Prozess Tonaufnahmen nicht gestattet sind.

Goldene Morgenröte versammelt sich und zeigt Hitlergruß. (Aus griechischer Zeitung "EFSYN")Goldene Morgenröte versammelt sich und zeigt Hitlergruß. (Aus griechischer Zeitung “EFSYN”)

“Bei Scheidungen ist häufig die Tonaufnahme im Saal erlaubt. Bei diesem wichtigen und bedeutungsvollen Prozess aber nicht. Dabei könnten zum ersten Mal überhaupt Mitglieder einer Organisation verurteilt werden, die sich unter dem politischen Mantel verstecken. Vom Chef bis zum letzten Mitglied. Der Historiker der Zukunft aber, wird darüber nicht viel finden.”

Zu finden sind aber 900 Videos, die noch nicht im Gericht gezeigt werden dürfen. Das entschied die Richterin, ohne Begründung. Videos erst zum Schluss, aber wann ist unklar. Dabei sind das genau die Beweise, die zeigen, wie die Goldene Morgenröte funktioniert.

“Disziplin heißt, die Befehle des Führers zu respektieren, die klar und deutlich sind. Viele tun das aber nicht – für uns ist das Verrat. Wenn es keine Disziplin gibt, gibt es auch keine Hierarchie. Bei der Goldenen Morgenröte geschieht nichts zufällig.”

Das sagt der im Prozess angeklagte Giorgos Patelis. Im Handy-Video spricht er vor der blau-weißen griechischen Fahne zu anderen Mitgliedern der Goldenen Morgenröte. Er gilt als sogenannter “Bezirksführer”, relativ weit oben in der Hierarchie. Er soll den Mord an Fyssas angeordnet haben. Er sagte mal: “Alles was sich bewegt, wird geschlachtet.” Die Sätze eines anderen Mitglieds lassen ebenfalls keinen Zweifel daran, um was für eine Organisation es sich handelt:

“Wir sind nicht nur gegen das System und anti-kommunistisch. Wir sind griechische Nationalisten, griechische Nationalsozialisten. Fürchtet euch aber nicht vor diesen Begriffen. Von dieser Ideologie leben wir und mit dieser Politik lösen wir die Probleme.”

Polizei – Wegschauen, Decken, Vertuschen

Für einen der Nebenklage-Anwälte Thanassis Kabagiannis sind solche Sätze nichts Neues. Er vertritt die ägyptischen Fischer, die im Juni 2012 brutal zusammengeschlagen wurden. Die Nebenklage hat drei Hauptziele: Verurteilung der Täter, beweisen, dass die Goldene Morgenröte eine kriminelle Organisation ist und die Verbindungen zwischen Polizei und Neonazis aufzeigen:

“Die Goldene Morgenröte konnte nicht all diese kriminellen Aktivitäten ausüben ohne Hilfe der Polizei oder gar der Justiz. Wir wissen das seit 20 Jahren. Es ist nicht so, dass uns das überrascht.”

Wegschauen, Decken, Vertuschen. Die Rolle der Polizei spielt eine zentrale Rolle im Prozess. Die damalige griechische Regierung musste reagieren, der Druck der Öffentlichkeit war zu groß. Das Resultat: Sie hat zehn hochrangige Beamte versetzt.

Zudem gab es interne Untersuchungen bei der Polizei. Von 330 untersuchten Fällen wurde lediglich bei zehn eine Verbindung zur Goldenen Morgenröte nachgewiesen.

“Wir haben eine Untersuchung der Untersuchung gemacht und rausgefunden, dass es mindestens 40 Fälle gab. Und das nur aus öffentlichen Quellen, aus den Medien. Es war so eine korrupte Untersuchung. Es war nur um zu sagen: Wir haben es überprüft. Leider hat sich das mit dem Regierungswechsel auch nicht geändert. Dabei wäre es so wichtig: ein Aufräumen.”

Der Anwalt der Nebenklage Kabagiannis beschäftigt sich auch mit dem NSU-Prozess in München. Vieles ist unterschiedlich, aber beide Prozesse haben eine Sache gemeinsam:

“Ich glaube die größte Verbindung ist die Unfähigkeit der Staaten, Deutschland und Griechenland, rassistische Gewalt als solche anzuerkennen und sie zu stoppen.”

Antisemitismus – Höchstwert in Europa

Das langjährige Zuschauen und Versagen des griechischen Staates ist für die Politikwissenschaftlerin Vassiliki Georgiadou die eine Sache. Die Professorin an der Athener Pantion-Universität beunruhigt vielmehr eine andere traurige Wahrheit. Laut einer Weltstudie der Nichtregierungsorganisation “Anti-Defamation-League” sind fast 70 Prozent der griechischen Bevölkerung antisemitisch, der Höchstwert in Europa.

“Die Zahlen sind fürchterlich. Das ist ein Zeichen, dass auch als eine fruchtbares Boden funktioniert für die Goldene Morgenröte und für andere rassistische Organisationen. Antisemitismus ist die Basis für Rassismus und diese Basis existiert hier in Griechenland.”

Diese xenophobe Basis spürt Seck Khadim täglich. Der 41-jährige Familienvater kommt aus dem Senegal, lebt seit vielen Jahren in Griechenland, ist verheiratet, hat eine Tochter. Im Trainingsanzug läuft er durch die dunklen Seitenstraßen neben der Athener “Plateia Amerikis”, wo viele Migranten leben. Er erzählt von einem Angriff der Neonazis auf die tansanische Gemeinde.

“Sie haben alles zerstört. 50 Personen haben die Scheiben eingeworfen, haben sie verprügelt. Als die Polizei kam, waren sie noch dabei. Wenn du das Video sehen würdest, es war unglaublich. Das war nicht genug für sie. Am nächsten Tag, als klar war: die Polizei hilft ihnen, deckt sie, um Fremde anzugreifen sind zu zur Bar von meinem Freund Patrick.”

Seck Khadim zeigt auf eine schwarz-verbrannte Hausfassade und den leeren Laden. Auf dem dreckigen Glas klebt ein Zettel: “Zu Vermieten”.

“Siehst du. Sie standen damals genau hier und sagten ihm: ‚Du öffnest heute deinen Laden nicht! Du hast kein Recht, hier zu arbeiten. Geh zurück in dein Land! Wenn du aufmachst, dann wirst du schon sehen, was passiert.’ Es waren viele, mehr als 20. Das war fürchterlich. Sie haben Feuer gelegt. Schau dir das Gebäude an. Kinder, Frauen leben drin. Das ganze Gebäude hätte brennen können, wenn unten Gas gewesen wäre. Aber ihnen ist es egal.”

“Und hier leben Mitglieder der Goldenen Morgenröte?”

“Ja, sie leben in dieser Gegend. Einer hat auch seine Waffe gezeigt und hat gerufen: ‚Nigger, verpisst euch!” – verstehst du was ich meine? Er wollte auf sie schießen!”

Ihr seid hier nicht erwünscht

Während wir uns unterhalten, werden wir von vielen Menschen angestarrt. Die gelblich schimmernde Straßenbeleuchtung, die einkehrende Dunkelheit. Überall sind die durchgestrichenen Parolen und Hakenkreuze noch zu erkennen. Wir werden beobachtet und die Blicke geben uns zu verstehen: Ihr seid hier nicht erwünscht. Seck Khadim hat gelernt, damit zu leben.

“Wir sollten nicht mehr Angst haben. Wir müssen uns dem entgegenstellen und bereit sein, jederzeit zu sterben. Seit dem Tag damals bis heute, habe ich keine Angst mehr und bin bereit zu sterben, jederzeit, auch jetzt.”

Der 41-jährige Seck Khadim selbst hatte immer Glück, viele seiner Freunde aber nicht. Seck Khadim dreht noch ein Video mit seinem Smartphone als Beweis, dass er ein Interview gegeben hat. Dieses Mal auf Griechisch, damit alle seine Freunde es sehen und teilen können. Er erzählt, dass die Angriffe weniger geworden sind und wie wichtig dieser Prozess für alle ist.

“Sie haben ein bisschen Angst bekommen, haben sich in die Häuser zurückgezogen. Es ist nicht wie früher. Aber sie können natürlich wieder raus. Wir wollen, dass sie im Gefängnis landen. Wenn sie aber nicht verurteilt werden, dann befürchte ich, geht wieder alles von vorne los. Und das bezahlen dann nicht nur wir, sondern alle Bürger.”

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